Article in Aerzliche Sprechstunden, 1887
Zeitschrift für naturgemäße Gesundheits- und Krankenpflege.
Organ des Hygieinischen Vereins zu Berlin.
Von Dr Paul Niemeyer, Sanitätsrath und Arzt des „hygienischen Vereins“ zu Berlin.
(Niemeyer, Johann Paul Otto, Dr. med. geb. 09.03.1832 Magdeburg, gest. 24.02.1890 Berlin, Arzt, Heilkundler, Publizist.
http://www.uni-magdeburg.de/mbl/Biografien/1782.htm)
Fortschritte in Praxis und Theorie Der Körperwägung, nebst geschichtlichem Rückblicke auf „exacte“ Forschung.
„Pro patria est dum ludere videmur“ – diesen auf Sportgebiete üblichen Rechfertigungsspruch könnte man mit Aenderung des zweiten Wortes in „sanitate“ sehr wohl auf die jetzt geradezu Mode gewordene Prüfung der Leiber mit Hülse der Waage anwenden, für deren Einführung in die Kinderstube diese Blätter gleich zu Anfang (IV, 57) mit solchem Erfolge eintraten, daß mir schon eine stattliche Sammlung von Babies und Täuflingen (XVII, 31) im Bilde nebst dazu geschriebenen Verhältnissen von Maas und Gewicht, bei einigen auch durch mehrere Jahrgänge fortgeführt, vorliegt. Um beispielsweise den zuletzt eingegangenen Beitrag (Danzig, d.d. 20. März) abzudrucken, so zeigte mein am 5. März 1881 mit einem Gewichte von 3,625 Kilo geborenes „hygieinisches ….?athenkind“, T h e k l a R., vom dritten Geburtstage an folgende musterhafte Entwicklungsstufen:
Gewicht Länge Brustumfang
5. März 1883: 13,125 Kilo 86 Centim. 50 Centim.
„ 1884: 15,25 “ 92 “ 53 “
“ 1885: 18,7 “ 99 “ 59 “
“ 1886: 21 “ 108 “ 61 “
“ 1887: 24,75 “ 118 “ 63 “
Einen gediegenen Fortschritt in planmäßiger Ordnung dieser Untersuchungsweise und besonders wissenschaftlicher Anleitung zur Würdigung ihrer Ergebnisse bezeichnen die fleißigen Wägungsarbeiten, welche beim internationalen Aerzte-Congreß von 1884 der dänische Pastor, Herr
R. M a l l i n g - H a n s e n
Vorlegte und erläuterte. In seiner Eigenschaft als Seelsorger der Königlichen Taubstummenanstalt zu Kopenhagen bethätigt er sich zugleich als Leibsorger an seinen Pfleglingen nach Art des das stille, stätige Wachsthum der Pflanzen überwachenden Gärtners und trat vorläufig mir den Ergebnissen von „täglichen Wägungen der 130 Zöglinge“ an dieser Anstalt hervor, ein Schriftchen, welches als Leitfaden für selbstständige Untersuchungen jeder darauf Bedachte benutzen sollte. Doch steht auch die deutsche Herausgabe eines größeren Werkes des dänischen Wiegemeisters hervor: „Ueber Periodicität im Gewicht der Kinder an täglichen Wägungen wahrgenommen.“ Uebersah ich zwar nicht, daß auch bei uns ein
Dr F l e i s c h m a n n zu Wien ähnliche Studien veröffentlichte, so kann ich mich doch vom hygienischen Standpunkte deshalb nicht für ihre Ergebnisse erwärmen, weil dieser Schulmediziner offenbar von der Voreingenommenheit ausgeht, als müsse der Kinderleib, wenn nur tüchtig gefüttert, unaufhaltsam von Woche zu Woche um so und so viel in die Länge und Breite wachsen, mit einem Worte „dicker werden“. In der That dient dann jeder Stillstand oder Rückschritt diesem Prüfer als Fingerzeig, daß anders genährt, Selbststillen eingestellt u. dgl. werden müsse. Damit aber werden unkundige Eltern nur noch weiter irregeführt und in dem ihnen meist anhaftenden, bedenklichen Vorurtheile bestärkt, daß es immer nur auf tüchtige Mästung durch den Magen ankomme. Wie selbst Aerzte, und zwar äußerlich hochstehende und, wie ich gerne zugebe, sonst auch recht verdiente Heilkünstler diesem früher schon (IV, 100) weitläufig bekämpften Vorurtheile huldigen, lehrte jüngst der in einer der größten Provinzialstädte ausgebrochene und vom dortigen Tagesblatte unter Kennung aller Kamen wochenlang breitgetretene
K r a n k e n h a u s s c a n d a l.
Die auf der Kinderabtheilung des städtischen Krankenhauses angestellte Frau Sch. nemlich wurde in Stadtgespräche immer lauter und schließlich auf dem Wege unmittelbarer Beschwerdeführung bei den Vätern der Stadt wegen Mißhandlung ihrer Pfleglinge, überhaupt eines rohen Benehmens bezichtigt und schließlich auch von ihren Vorgesetzten des Dienstes entlassen. In einem der Stadtverordnetenversammlung vorgelegten Schreiben des Anstaltsarztes, Geheimerath Dr H., jedoch hieß es u. A.: Wolle und könne er zwar die p. Sch. Im Ganzen und Großen nicht in Schutz nehmen, so müsse er doch die in einem Falle von ihr beliebte Züchtigung dadurch gerechtfertigt finden, daß das Kind sich geweigert habe, Fleisch, Ei, Bouillon u. dgl. Stärkungsmittel gutwillig zu sich zu nehmen, während doch ärztlicher Seits diese Verpflegungsweise (sic!) als einzige Möglichkeit, es am Leben zu erhalten, vorgeschrieben worden (!!). Ich füge hinzu: „Der Rest ist Schweigen!“ (Vgl. jedoch IV, 94.)
Andererseits bekomm’ ich aus hygienischen Kreise immer mal wieder die Klage zu hören: „die Leute“ schütteln doch wohl nicht mit Unrecht den Kopf darüber, daß unser Kind, auf dessen hygienische Züchtung wir uns so viel zugute thun, im Ernährungsstande gegen andere zurückbleibt; während uns dort pausbäckige Früchte vorgehalten werden, bleibt unseres „wie Haut und Knochen“ nimmt auch an Gewicht eher zu als ab u.s.w.
Ohne mich über diese, bereits (IV, 99) als unbegründet nachgewiesene Bedenklichkeit nochmals zu verbreiten, stelle ich ihr hier zum Troste nur die Thatsachen zusammen, welche der nicht bloß dann und wann, sondern, wie gesagt, laufend mit der Waage arbeitende Herr M a l l i n g - H a n s e n verzeichnet:
Ohne daß sich im Befinden das geringste ändert, kann das Kind am Abende bis 2 Pfund schwerer als am Morgen und am Morgen bis 1½ Pfund leichter sein als am Abende. Von einem bis zum andern Abende kann‘s bis 1 Pfund zu- oder bis ¾ Pfund abnehmen. In gewissen Monaten kommt binnen 6 bis 14 Tagen ein Gewichtsverlust vor, welcher das Dreifache der bis dahin bestandenen Gewichtsvermehrung betragen kann und nachher auch nicht durch folgende Gewichtssteigerung ersetzt wird. –
(JMC: Hier folgen 10 Seiten – Seite 137 bis 147 - mit Tekst von Unterhaltungscharakter, die nichts über Malling-Hansen erwähnen und für uns nicht relevant sind, und wir fahren hier fort von Seite 147, Mitte):
Doch auch vom Standpunkte der Schulweisheit muß S a n t o r o[1] der Vater der exacten Heilkunde heißen, nur daß sie sich damals die
Iatromathematische Schule
(auch iatromechanische und iatrophysische ) nannte, als solche aber sich hauptsächlich aud die Forschung verlegte, welche unter dem in diesen Blättern schon (X, 19) erläuterten Namen der S o l i d a r p a t h o l o g i e heutzutage so ziemlich das ganze Dichten und Trachten der Exacten ausmacht. In Krankenbehandlung jedoch stand das Mittelalter sicherlich noch auf höherem Standpunkte insofern, als man an der hippokratischen Erfahrungslehre festhielt und auch die Specialität des S a n c t o r i u s, di Ausdünstung, nach ganz hygienischen, wenn auch etwas pferdecurmäßigem Plane zur Durchführung …..(unlesbar) Schwizcur verwerthete. S a n c t o r i u s selbst jedoch staht darin am größten da, daß er für seine Person darauf verzeichnete, die werthvollen Ergebnisse seiner aus rein wissenschaftlichem durchgeführten Forschungen etwa zu Nutz und Frommen eines Regimes oder „geschlossenen Heilanstalt“ auszuschlachten. –
Ganz und voll verdient dies Lob auch Herr M a l l i n g – H a n s e n, der mir überhaupt wie der ebenbürtige Nachfolger S a n t o r o’s vorkommt, obgleich vielleicht auch er nicht mit den allerfeinsten Waagen arbeitet, wie sie – vom technischen Gesichtspunkte – in unseren physio- und pathologischen Laboratorien gerechte Anerkennung verdienen. Was ihren geistigen Gehalt betrifft, so erheben sich die ungeheuren Fortschritte der fachmännischen Exactheit kaum über‘s Niveau des “intelligenten Schusterthumes“ (XI, 271) und auf die aus ihren „fleißigen Arbeiten“ gezogenen Schlüsse paßt heute erst recht die von Dr B a a s vom Jahre 1792 verzeichnete Verwahrung des „hochverdienten Gelehrten“ Dr M e t z g e r[2]:
„Wir würden unter die großen Hülfsmittel der Fortschritte in der Anatomie auch die Vergrößerungsgläser rechnen, wenn ihr Nutzen nicht zweideutig wäre, und durch ihren Gebrauch nicht schon mehr Trugschlüsse und Irrthümer als Wahrheiten in die Wissenschaft eingeführt worden.“
(JMC: Die 2 letzten Seiten sind ohne Interesse).
[1] jMC: Santorio Santorio (latinisiert Sanctorius), 1561-1636, italienischer Mediziner, der als erster systematische Stoffwechselforschungen durchführte. Er war ebenfalls der erste, der Präzisionsinstrumente in der Medizin einsetzte, um quantitative Experimente durchführen zu können. Santorio war von 1611 bis 1624 Professor für theoretische Medizin in Padua und später in Venedig.