Fränkischer Kurier, 1887
(Mittelfränkische Zeitung, Nürnberger Kurier, 54. Jahrgang)[1]
Nr. 320. Samstag- Abendblatt. Nürnberg , 25. Juni 1887.
Perioden im Gewicht der Kinder und in der Sonnenwärme.[2]
Unter diesem Titel hat unlängst der Direktor der Taubstummenanstalt in Kopenhagen eine interessante und auf mühevollen Studien beruhende Schrift[3] erscheinen lassen, welcher ein kostbarer Atlas mit den die Belege enthaltenden graphischen Darstellungen beigegeben ist. Schon früher hatte der Verfasser im Druck darauf hingewiesen, daß das Körpergewicht im jugendlichen Alter eigenthümlichen Schwankungen unterworfen sei; die Ermittlung der Ursache der sich hiebei ergebenden Periodizität beschäftigte ihn seitdem angelegentlich, und es wurden deshalb Wägungen im größeren Maßstabe und nach festen Grundsätzen durgeführt, an welche sich zugleich regelmäßige Höhenmessungen anschlossen. Um wirklich vertrauenswerthe und vergleichbare Zahlen zu erhalten, bedarf es sehr sorgfältiger Berücksichtigung der mancherlei Fehlerquellen, die zum Theile verborgen genug liegen, um von einem mit den Individualverhältnissen nicht gehörig Vertrauten überhaupt sich herausgefunden werden zu können. So schiebt sich z. B. in die längern Perioden eine immer wiederkehrende Oszillation von der Dauer eine Woche ein, welcher zufolge das Körpergewicht an einzelnen Tagen geringer sein würde als an gewissen andern; die Thatsache ist denn auch richtig, allein sie hat keine physikalischen, sondern einzig und allein einen physiologischen Untergrund, insofern nämlich der Speisezettel des Institutes für jeden Tag ein fester ist; der Appetit der Zöglinge und damit auch die Nahrungsaufnahme ist aber nicht allen Gerichten gegenüber die gleiche, und Zu- und Abneigung tritt dann auch in den Wägungen deutlich zu Tage. Wenn sich die Untersuchung jedoch über lange Zeiträume erstreckt, so wird die aus solch gleichbleibenden Fehlern erwachsende Störung immer einflußloser , das „Gesetz der großen Zahlen“ tritt in seine Rechte, und zumal bei der überall hervorleuchtenden Sorgfalt des Autors in der Zusammenstellung seiner Resultate dürften diese letztern unser volles Vertrauen verdienen.
Denken wir uns auf einer horizontalen Linie 365 gleichabständige Punkte, den Tagen des Sonnenjahres entsprechend, markirt, nehmen wir ferner an, es sei durch jeden dieser Punkte eine Vertikallinie gezogen und auf dieser eine Strecke proportional dem nach irgend einem Maßstabe gemessenen Gewichte des Kindes aufgetragen, und verbinden wir schließlich die Endpunkte aller dieser senkrechten Linien durch einen Kurvenzug, so lehrt uns der Anblick dieser Kurve sofort – wenn eben ein solcher vorhanden ist – über den Zusammenhang zwischen der Schwere des jugendlichen Körpers und dem Stande der Sonne. So finden wir denn, daß das Gewicht eines Knaben, der etwa 9 bis 15 Jahre zählt, jährlich drei Perioden ausweist. Vom August bis zur Mitte des Dezember reicht eine Maximalperiode, von hier bis zum Ende des April reiht sich eine Mittelperiode an , und bei Rest des Jahres wird durch eine ausgesprochene Minimalperiode ausgefüllt. Während der ersten Periode ist die tägliche Gewichtsentwicklung das Dreifache von jener der Mittelperiode, und die Zeit des Minimums führt endlich wieder den Verlust der ursprünglichen Errungenschaften herbei. Aehnlich weist auch die Kurve des Höhenwachsthums drei verschiedene Perioden auf, jedoch in einer von der vorigen abweichenden Aufeinanderfolge, insofern im Allgemeinen, jedoch durchaus nicht in völlig übereinstimmenden Zeitintervallen, die Minimalperiode der Vertikaldimension mit der Maximalperiode des Gewichts sich deckt.
Daß der Unterschied zwischen der größten und kleinsten Ordinate bei der Gewichtskurve ein entscheidenderer ist als bei der Höhenkurve , versteht sich ganz von selbst. Da nun aber ein Anwachsen der Körperschwere doch auch notwendig von einer Vermehrung des Gesammtvolumens begleitet sein muß, so geht aus den Angaben unserer Vorlage mit Sicherheit hervor, daß der jugendliche Leib niemals in die Breite und Höhe wächst, daß vielmehr einer stärkeren Ausdehnung der beiden horizontalen Dimensionen (Breite und Dicke) ein fast totaler Stillstand in der Vergrößerung der vertikalen Dimension (Höhe) entspricht und umgekehrt. Für Holzpflanzen vermochte der Verfasser durch Versuche ein ähnliches Verhältniß nachzuweisen, so daß mithin durch diesen Antagonismus zeitlicher Natur zwischen dem Ausdehnungsbestreben in der Horisontalebene und in den freien Raum hinaus ein allgemeines biologisches Gesetz angedeutet zu sein scheint.
Daß dabei die Wärme von auschlaggebender Bedeutung sein würde, lies sich vornherein vermuthen, und wirklich wird auch durch die Parallelisierung, welche vom Verfasser zwischen den Linien der Gewichtszunahme und des Temperaturganges vorgenommen wurde, jeder Zweifel gehoben, daß etwa die obige Voraussetzung keine zutreffende wäre. „Die Gewichtszunahme der Knaben schwankt übereinstimmend mit der örtlichen Wärme.“ Herr Malling-Hansen hat es sich jedoch mit dieser Erkenntniß nicht genügen lassen, er hat vielmehr mit Unterstützung des k. dänischen meteorologischen Institutes die Temperaturkurven auch für eine ganze Reihe anderer europäischer und nichteuropäischer Orte konstruirt und durch Kombination ersterer unter sich herausgebracht, daß das zuerst allein für Kopenhagen festgestellte Faktum sich durch die Beziehung solch neuen Materiales nur noch mehr bewahrheitet.
Weiterhin zieht dann unsere Schrift auch noch andere Faktoren der Erdphysik, den Dampfdruck und Ozongehalt der Luft, den Erdmagnetismus u.s.w. in‘s Bereich der Betrachtung und sucht auch in den Schwankungen dieser Elemente analoge Regelmäßigkeiten zu entdecken, wie ihm Das hinsichtlich der zuerst untersuchten gelungen ist. Dieser Theil der großen Arbeit scheint uns, obwohl wir bereitwillig die an ihn gesetzte Hingebung anerkennen, noch nicht in gleicher Weise reife Früchte zu bringen wie der frühere, denn es handelt sich hier um so verwickelte Verhältnisse, daß eine Aufklärung darüber erst von einer nicht sehr nahen Zukunft zu erwarten sein möchte. Wir enthalten uns deshalb auch weitern Eingehens in die Reflexionen des Verfassers über Sonnenphysik, weil uns dieselben zu dem eigentlichen Gegenstande vorläufig noch in einer zu wenig engen Beziehung zu stehen scheinen. Den Schlußsatz aber glauben wir, weil derselbe ein vom Detail der Untersuchung unabhängiges Interesses besitzt, wörtlich wiedergeben zu sollen: „Alle organische Funktionen über den ganzen Erdball hin befinden sich in ununterbrochenen und übereinstimmenden Intensitätsschwankungen. Die Impulse zu diesen gemeinsamen Schwankungen gehen von der Sonne aus, gelangen zur Erde im oder mit den Wärmestrahlen, erwärmen mit diesen, lokalisiren sich aber nicht, sondern verbreiten sich im Nu über die Erde und haben die gleichen Schwankungen and den Polen und am Aequator, auf der Tag- und auf der Nachtseite der Erdkugel.“ Dieser Satz verdient gewiß ebenso Beachtung wie die Schlußabtheilung des Buches, in welcher der Verfasser, gestützt auf seine reiche Erfahrung, die zahlreichen Irrthümer aufdeckt, in welchen sich selbst angesehene Fachmänner bei ihrer Beurtheilung der Kinderwägungen bewegt haben. Wir hegen keinen Zweifel, daß durch diese Publikation nach mancher Seite hin eine werthvolle Anregung gegeben und dadurch auch die Lösung mancher nur durch die vereinte Anstrengung vieler weiterzufährender Fragen vorbereitet werden wird.
S.G.
[1] JMC: Die Nürnberger Zeitung ist eine regionale Tageszeitung mit dem Untertitel “Fränkischer Kurier“, gegründet schon im Jahre 1804 ist es eine der ältesten deutschen Tageszeitungen. Als eine der ersten deutschen Tageszeitungen hatte der „Korrespondent“ ab 1807 ein Feuilleton, in dem nichtpolitische und kulturelle Nachrichten abgedruckt wurden, die von der Zensur weniger scharf kontrolliert wurden. Weblink: www.nuernberger-zeitung.de
[2] JMC: Ausschreibung von Jørgen Malling Christensen, die orginale Orthographie beibehaltend.
[3] ………., Beobachtungen von R. M a l l i n g – H a n s e n . Fragment III A. (Hierzu 44 Tafeln in Fragment III B). Kopenhagen. Wilhelm Tryde‘s Buchhandlung. 1886.
Information about Fränkischer Kurier:
http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_44869