Die Schreibkugel als Fenster in die Vergangenheit
Dieter Eberwein restaurierte die wertvollste Schreibmaschine der Welt
Kassel – 33610 Mal drückte der Philosoph Friedrich Nietzsche (1844 bis 1900) mit „feinen Fingerchen“ die Tasten seiner Schreibmaschine. 33610 Zeichen auf insgesamt 57 Seiten: Briefe, Postkarten, Verse. Der Kasselaner Volkswagen-Mitarbeiter Dieter Eberwein untersuchte jeden Abdruck, durchleuchtete jeden einzelnen Buchstaben. Und er restaurierte in akribischer Kleinarbeit das Schreibgerät des großen Denkers, die so genannte Malling-Hansen-Schreibkugel. „Für mich war dieses Objekt ein Fenster in die Vergangenheit“, erzählt der passionierte Restaurator.
Als er eine Schreibgeräte-Ausstellung im Goethe-Haus in Weimar besuchte, wurde der gelernte Feinmechaniker und Diplom-Ökonom, der im Werk Kassel als Logistik-Planer arbeitet, auf Nietzsches Schriebkugel aufmerksam. Eberwein ist seit seiner Jugend Sammler feinmechanischer Geräte und besitzt über hundert Schreibmaschinen. Der Nordhesse entdeckte einige Defekte und bot dem Goethe-Schiller-Archiv die Reparatur der nach seinen Angaben wertvollsten Schreibmaschine der Welt an. Das Archiv willigte ein, und der 39-Jährige legte unter strengen Sicherheitsvorkehrungen und beobachtet von den Archiv-Mitarbeitern Hand an.
Es gelang ihm, den Schaden zu beheben – und das Archiv endgültig von seinen Fähigkeiten zu überzeugen. Weil er bei der Reparatur weitere Schäden feststellte, schlug er eine umfassende Restaurierung dieser Schreibkugel, die als erste serienmäßig hergestellte Schreibmaschine überhaupt gilt, vor. In einem feuerfesten und explosionssicheren Safe wurde das wertvolle Stück in Eberweins Werkstatt transportiert. „Aus Sicherheitsgründen durfte ich immer nur an einem Teil der Maschine bei mir zu Hause arbeiten“, so Eberwein. Vorsichtig zerlegte er die Kugel in ihre Bestandteile und entfernte Korrosionsschäden. Eine besondere Herausforderung waren die verbogenen Messingteile, die nur erhitzt gerichtet werden konnten. Eberwein baute eine Vorrichtung, mit der er das Metall im Innern auf 350 Grad Celsius erhitzen konnte, ohne außen den Lack zu beschädigen.
Auch nach der geglückten Restaurierung ließ ihn Nietzsches Schreibkugel nicht los. Eberwein wies aufgrund eines Schriftenvergleiches erstmalig hieb- und stichfest nach, dass es sich bei der Maschine in Weimar tatsächlich um die Nietzsche-Schreibkugel handelt.
Im Februar 1882 tauschte der unter einer Sehschwäche leidende Philosoph Tinte und Federfass gegen das vom dänischen Erfinder Malling Hansen entwickelte Gerät ein. Nach nur sechs Wochen beendete er aber das „Experiment Schreibmaschine“, weil die Schreibgeschwindigkeit hinter der Handschrift zurückblieb. Eberwein untersuchte das Schriftbild der in dieser Zeit entstandenen Texte, entzifferte Nietzsches Schreibverhalten.
Außerdem gelang es Eberwein, die Originaltexte fast auf den Tag genau chronologisch zu ordnen. Die Textilmuster, die die Typen durch das Farbband auf das Papier schlugen, brachten ihn auf die Spur. In der Fachwelt sorgte er mit seiner Entdeckung für Aufsehen. Sogar das Bundeskriminalamt (BKA) zeigt Interesse an seiner Datierungstechnik. me
INFO: Dieter Eberwein hat seine Forschungen in einem Buch dargestellt, das er auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt hat. Nietzsches Schreibkugel, Dieter Eberwein, 2005 im Eigenverlag erschienen (Typoskript-Verlag), 265 Seiten, 33 Euro, ISBN-10: 3-00-015554-6.